Das Ende vom Müll


Wenn Produkte in Kreislaufwirtschaftssystemen entstehen, fällt kein Müll mehr an. So der Plan. Wie weit sind wir schon? Sarah Lichtenthäler vom Institut der deutschen Wirtschaft sagt: „Noch nicht weit genug.“

 

Frau Lichtenthäler, ganz konkret: Wo hat Kreislaufwirtschaft, auch Circular Economy genannt, in Ihrem Privatleben zuletzt eine Rolle gespielt?
Ich habe eine 15 Monate alte Tochter, die natürlich regelmässig neue Kleidung braucht. Bevor wir etwas Neues kaufen, schauen wir nach Secondhandartikeln oder leihen uns etwas im Freundeskreis. Das ist einfach viel günstiger. Um Ressourcen zu schonen, benutzen wir ausserdem Stoffwindeln, die kann man waschen. Im Durchschnitt erspart man der Welt so etwa 5.000 Windeln pro Kind.

Aber zählen das Einsparen von Wegwerfwindeln und Secondhandmode denn schon zur Kreislaufwirtschaft?
Auf jeden Fall. Im Kern geht es ja darum, möglichst wenige Rohstoffe zu verschwenden und Produkte und Materialien so lange wie möglich zu nutzen. Die Reparatur und die Wiederaufbereitung können den Lebenszyklus von Produkten und Materialien dann noch einmal deutlich verlängern. In der komplexesten Form der Kreislaufwirtschaft, dem Cradle-to-Cradle-Prinzip, kommen dagegen nur Produkte und Materialien zum Einsatz, die aus natürlichen oder schadstofffreien Rohstoffen bestehen. Sind die nicht mehr recycelbar, kann man sie bedenkenlos der Umwelt zuführen, wie bei einem Kompost. Im Prinzip gibt es so gar keinen Müll mehr. Denn die Natur macht daraus irgendwann wieder neue Rohstoffe. 

Das hingegen klingt traumhaft! 
Ja. Leider sind die meisten Produkte, die heute im Umlauf sind, noch nicht nach diesem Konzept hergestellt. Die aber einfach wegzuschmeissen und durch komplett naturbasierte Produkte zu ersetzen, wäre katastrophal. Das würde ja noch mehr Ressourcen kosten. Und ist ja auch noch nicht in allen Fällen technisch möglich. Eine ordnungsgemässe Rückführung, die Demontage der Produkte und das sortenreine Recycling bereits existierender Produkte sind für mich deshalb wichtiger Teil einer erfolgreichen Kreislaufwirtschaft. Oder Upcycling, wo recycelte Stoffe höherwertig genutzt werden.

Jede Schweizerin und jeder Schweizer verbrauchte im Jahr 2023 rund 19 Tonnen neues Material, davon wurden gerade einmal 6,9 Prozent wiederverwertet. Wie verbreitet ist das Prinzip der Kreislaufwirtschaft denn tatsächlich?
Meine Kolleginnen, Kollegen und ich sprechen mit vielen Unternehmen und Verbänden und sehen: Kreislaufwirtschaft ist durchaus ein grosses Thema. Bei der Umsetzung sieht es aber noch sehr dürftig aus: Viele Unternehmen setzen schon den einen oder anderen Aspekt um. Eine ganzheitliche Strategie gibt es aber in den wenigsten Fällen. Vor allem die kleinen und mittelständischen Unternehmen müssen sich auf den Weg machen. Sie haben zwar schon das nötige Wissen, ihnen fehlt es aber oft an Ressourcen für die praktische Umsetzung.

Wo könnte man anfangen?
Darauf gibt es keine einfache Antwort. Jedes Unternehmen steht an einer anderen Stelle der Wertschöpfungskette und braucht deshalb eine andere Strategie. Je komplexer ein Produkt aufgebaut ist, desto mehr Materialien und unterschiedliche Verfahren braucht es in der Herstellung. Da kann die Umsetzung der Kreislaufwirtschaft anspruchsvoll sein. Grundsätzlich finde ich es sehr wichtig, den gesamten Lebenszyklus eines Produkts im Blick zu haben. Ich würde deshalb immer beim Design der Produkte oder Komponenten ansetzen und überlegen: Welche alternativen Materialien stehen zur Verfügung? Wie kann das Produkt hergestellt werden? Was sind die Anforderungen für die Nutzungsphase? Und wie können die Produkte möglichst effizient wieder repariert oder aufbereitet werden? 

Die einzelnen Unternehmen sind also in der Pflicht? 
Die Unternehmen müssen viel stärker über Branchengrenzen hinaus miteinander kooperieren. Es gibt ja zum Beispiel in Autos Textilien, die auch irgendwann wieder zu einem anderen Produkt weiterverarbeitet werden können. Hier sehe ich viele wertvolle Synergien.

Ein ziemlicher Kraftakt für die Wirtschaft.
Ist es auch. Was von den Unternehmen verlangt wird, ist eine extreme Neuausrichtung der Geschäftsmodelle, eine komplett neue Art zu wirtschaften. Wir haben bei unserer Forschung und durch regelmässige Umfragen aber einen Erfolgsindikator ausgemacht. Und dieser Indikator zeigt, dass der Unternehmenserfolg steigt, je breiter die Kreislaufwirtschaft im Unternehmen verankert ist. Für viele Unternehmen würde sich dieser Wandel also letztlich wirtschaftlich lohnen. Nicht nur, weil man Ressourcen einspart, sondern auch weil man möglicherweise weniger Energie verbraucht, weniger Abfall produziert, weniger CO2 ausstösst. 

Die Industrie wehrt sich ja gern gegen Einschränkungen und Regularien.
Die Unternehmen stehen vor der Herausforderung, gleichzeitig mit ihrem bisherigen Geschäftsmodell Geld verdienen zu müssen, um daraus wiederum Spielräume erarbeiten zu können. In den unterschiedlichen Ausschüssen, in denen ich sitze, sehe ich aber: Vielen Unternehmen ist die Notwendigkeit solcher politischen Rahmenbedingungen klar. Sie begrüssen sie sogar, gerade im umweltpolitischen Bereich. 

Welchen politischen Richtlinien wären besonders wichtig?
Das Recht auf Reparatur von technischen Produkten, das die Europäische Union gerade verabschiedet hat, ist schon einmal ein wichtiger Schritt. Für die Unternehmen ist es wichtig, dass die geforderten Standards klar definiert sind und sich in der Praxis auch wirklich umsetzen lassen.

Mit der Änderung des Umweltschutzgesetzes am 15. März 2024 hat die Schweiz nachgezogen. Die Regierung hat jetzt die Rechtsgrundlage, um neue Anforderungen an die Lebensdauer von Produkten zu stellen. Und die Reparatur wurde im Gesetzestext explizit als zentrales Element der Kreislaufwirtschaft verankert.
Und das ist auch gut so. Man denke nur an die sogenannten Schubladenhandys, von denen jeder und jede zwei bis drei zu Hause liegen hat, ohne sie zu benutzen. Das sind sehr viele ungenutzte Rohstoffe. Aber die Menschen sind einfach verunsichert und besorgt, was mit ihren Daten geschieht, wenn sie die Geräte entsorgen. Da braucht es mehr Rechtssicherheit und mehr Kommunikation gegenüber den Konsumierenden, in allen Ländern.

Wie wäre es mit einem Pfandsystem für alle Konsumgüter?
Es gibt viele Produktgruppen, auf die das anwendbar wäre. Beim Joghurtglas ist es ja inzwischen auch voll akzeptiert. Mir ist zum Beispiel ein Rätsel, warum Einwegplastik in der Gastronomie nicht komplett verboten ist, schliesslich gibt es gute Mehrwegalternativen. Wir müssen der Bevölkerung erklären, wie notwendig solche Massnahmen sind und dass keine Nachteile entstehen. Wenn es gute Lösungen gibt, werden die neuen Praktiken irgendwann auch akzeptiert. 

Kann man das irgendwie beschleunigen? Die Klimakrise wartet ja nicht auf uns.
Auch wenn das jetzt eine völlig andere Baustelle zu sein scheint: Wir müssen mit der Digitalisierung vorankommen. Es gibt bereits den digitalen Produktpass für einige Produkte, der Informationen zu Komponenten, Materialien und Rohstoffen und Hinweise zu Reparierbarkeit, Ersatzteilen und fachgerechter Entsorgung bereitstellt. Viele Unternehmen sind aber nicht ausreichend digitalisiert, speichern ihre Produktdaten noch analog und können den digitalen Produktpass deshalb nicht nutzen. Und andere technische und rechtliche Hürden verhindern, dass Unternehmen ihre Daten miteinander teilen. Wenn sich das ändern würde, wären wir einen wichtigen Schritt weiter in Sachen Kreislaufwirtschaft.

Sarah Lichtenthäler, 35

ist Expertin für Umwelt, Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.

Podcast

Kreislaufwirtschaft in Aktion

In unserem Podcast "100 Minuten" findet brandeins-Podcaster Frank Dahlmann auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Wirtschaft Unternehmen in der Schweiz. In dieser Folge: das Start-up Gaia Tech, das aus Resten, die in der Agrarindustrie anfallen, Kosmetik herstellt. Die vergessene Olive wird zur Gesichtscreme – so geht Upcycling!

Dieses Interview ist ein Produkt der CP-Redaktion der brand eins Medien AG, Hamburg, im Auftrag des Migros-Pionierfonds. 
Konzept, Redaktion und verantwortlich für den Inhalt: Margitta Schulze Lohoff
Text: Laslo Seyda (fr)
Gestaltung: Deborah Tyllack
www.brandeins.de