Bio, logisch!
Artenschutz hat nichts mit Geschäftserfolg zu tun? Im Gegenteil, sagt Thomas Crowther von der ETH Zürich. Der Experte für Biodiversität weiß: „Wenn die Natur floriert, floriert auch die Wirtschaft.“
Herr Crowther, ganz konkret: Wo hat Biodiversität in Ihrem Privatleben zuletzt eine Rolle gespielt?
Vergangenes Wochenende habe ich unter freiem Himmel geschlafen. Das mache ich fast jede Woche. Ich liebe es, so viel Zeit wie möglich draußen zu verbringen. Ich packe einfach nur meine Hängematte und ein Buschmesser ein und fahre in die Wälder vom Studberg, rund 70 Kilometer südöstlich von Zürich. Dann sitze ich da an meinem kleinen Feuer und beobachte die Natur. Wenn man sich darauf einlässt, kann man so viel entdecken. Nicht nur die vielen unterschiedlichen Bäume und Pflanzen. Wenn man ganz genau hinschaut, kann man feststellen, wie viele verschiedene Moosarten es gibt, wie viele unterschiedliche Insekten. Das ist wirklich bemerkenswert. Man muss sich nur die Zeit für die Natur nehmen und in Beziehung zu ihr gehen.
Fehlt uns das, die Beziehung zur Natur?
Ich glaube, ja. Ich weiß noch, wie wir in meiner Kindheit einen Sommerurlaub in Frankreich verbracht haben, zusammen mit einer anderen Familie. Während die anderen im Garten herumtobten, habe ich mich für eine Wand interessiert, auf der etliche Eidechsen herumkrabbelten. Stundenlang saß ich vor der Wand und starrte diese flinken Geschöpfe an. Irgendwann erkundigte sich die Großmutter der anderen Familie bei meinen Eltern, ob irgendetwas mit mir nicht stimme. Mein Vater konnte nicht glauben, was er da hörte. Er fragte: Was stimmt denn mit dem Rest von uns nicht? Wir sollten alle von der Natur fasziniert sein, ihre Schönheit anerkennen. Ich war damals noch sehr jung, die Worte meines Vaters haben mich aber bestärkt in meiner Wertschätzung für die Natur.
Welchen Nutzen haben denn Eidechsen?
Eidechsen zählen zu den Raubtieren – und die sind in allen Ökosystemen unverzichtbar. Ohne Tiger und Jaguare zum Beispiel würden manche Tiere zu viele Pflanzen im Regenwald fressen, sodass sich der Wald nicht mehr regenerieren könnte. Eidechsen erfüllen dieselbe Aufgabe, sie sind im Prinzip die Raubtiere im Unterholz. Sie regulieren die Insektenpopulationen, auch die Population von Schädlingen, die sonst die gesamte Vegetation am Erdboden abgrasen würde. Ohne Eidechsen könnte die Zahl der wirbellosen Tiere im Boden explodieren, das organische Material würde sich viel schneller zersetzen und mehr Kohlenstoff in die Atmosphäre schicken, was wiederum die Erderwärmung antreiben würde. Eidechsen und ähnliche Räuber wie Schlangen sind also nicht nur für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in einem kleinen Teil des Ökosystems wichtig, sondern spielen auch eine Rolle bei der Entwicklung des Klimas.
Wie das?
Klima und Biodiversität stehen in einer Verbindung zueinander: Sterben Arten aus, können Ökosysteme kippen, was wiederum die Klimakrise anheizt. Und die Klimakrise schafft schlechtere Bedingungen für die Lebewesen. Ein Teufelskreis. Abgesehen davon ist die biologische Vielfalt das Fundament unser aller Lebensgrundlagen. Nur ihr haben wir die Luft zum Atmen zu verdanken, sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittel. Der Planet wäre unbewohnbar. Wenn die Natur diese Leistungen nicht erbringen würde, würde auch unser Wirtschaftssystem kollabieren und damit unsere gesamte Zivilisation. Auch der Verlust an Lebensräumen kann eine große Bedrohung darstellen. Wenn der Mensch den Tieren nämlich immer mehr auf den Pelz rückt, steigt das Risiko von ansteckenden Krankheiten, die sich auch schnell zur Pandemie entwickeln können. Die Krise der Biodiversität ist deshalb eine viel umfassendere Bedrohung, als viele glauben.
Viele Menschen verwenden den Begriff Biodiversität als Synonym für Artenvielfalt, denken dabei an Tiere, Insekten, Pflanzen.
Das ist richtig – und zu kurzsichtig. Die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten auf der Welt ist nur ein Aspekt. Es geht auch um den genetischen Reichtum innerhalb der einzelnen Arten und um die Vielfalt der Ökosystemstrukturen auf dem gesamten Globus. Es geht insgesamt um die Vielfalt aller lebenden Organismen, Lebensräume und Ökosysteme. Das schließt zum Beispiel auch Mikroben ein, die in den Tiefen der Ozeane leben. Wir können sie nicht sehen, ihre Existenz hat aber großen Einfluss auf das Leben im Meer, auf die Zusammensetzung der Atmosphäre und auf das Klima.
Ist es ein Problem für die Biodiversität, dass wir sie in ihrer Gesamtheit nicht sehen und verstehen können?
Auf jeden Fall. Wenn Wälder verschwinden, Gletscher abbrechen oder Tierarten aussterben, merken wir das vielleicht. Und vielen Menschen ist klar, dass da gerade was ins Kippen gerät. Aber die Welt der Mikroben und Bakterien ist genauso bedroht wie alle anderen Ökosysteme. Die konnten wir aber ganz lange nicht zählen und in Statistiken erfassen. Und lange galt, dass wir nicht retten können, was wir nicht messen können. Ein großes Missverständnis.
Hat sich das geändert?
In den letzten zehn Jahren haben wir tatsächlich große Fortschritte gemacht. Die Digitalisierung hat uns in die Lage versetzt, viel mehr Daten zu sammeln und zu vergleichen als vorher. Jetzt können wir nicht nur die Komplexität von Ökosystemen messen oder deren Kohlenstoffgehalt, sondern auch ihre Gesundheit und die genetische Variation der Mikroben. Ganz allgemein kann man jetzt sagen: Je komplexer ein System ist, desto gesünder ist es. Das verändert unser Verständnis von Biodiversität komplett.
Wie meinen Sie das?
Wir Menschen haben uns viel zu lange auf den oberflächlichen Nutzen der Natur fokussiert: Die Bereitstellung von Holz als Baustoff, Naturfasern als Grundlage für Textilien, Pflanzen für die Herstellung von Medikamenten und Lebensmitteln. Diese Dinge haben wir für unsere Zwecke instrumentalisiert und den vermeintlich überflüssigen Rest der Natur vernachlässigt. Dank der neuen Mess- und Berechnungstechnologien wächst aber unsere Fähigkeit, das große Ganze noch besser zu erfassen und die Zusammenhänge und Wechselwirkungen innerhalb der Ökosysteme noch besser zu verstehen. Wir begreifen jetzt: Jeder noch so winzige Teil in der Natur ist wahnsinnig wichtig. Dieses Wissen wird beim Schutz der Biodiversität eine große Rolle spielen.
Welchen Beitrag können andere Technologien beim Erhalt der biologischen Vielfalt leisten?
Mobile Messgeräte, die den Austritt von Klimagasen registrieren und die Daten sofort weiterleiten können, sind natürlich sehr hilfreich. An der ETH Zürich haben wir mit dem SEED-Programm sogar einen eigenen Index entwickelt, der die biologische Komplexität und Gesundheit jedes Ökosystems auf der Erde abbildet. Dabei kombinieren wir Satellitenbilder, mit denen wir auf bis zu 30 Meter an die Erdoberfläche heranzoomen können, mit Nahaufnahmen von Drohnen und physischen DNA- und Akustikdaten von mehr als 130.000 Standorten.
Aber Messdaten allein führen nicht unbedingt zu einer Veränderung.
Stimmt. Die Technologie kann nur dazu beitragen, uns die Augen zu öffnen und die nötige Transparenz zu schaffen, damit wir die Auswirkungen unseres Handelns besser verstehen und erkennen können, wo es Verbesserungsbedarf gibt. Wie wäre es zum Beispiel beim Einkaufen mit einem QR-Code auf jedem Produkt, bei dem man per Scan sofort erkennen kann, ob das Produkt mit Zutaten einer Monokultur entstanden ist, vielleicht sogar unter Einsatz von Pestiziden, oder ob es aus einer regenerativen Landwirtschaft stammt, die biologische Vielfalt unterstützt. Die Technologie dafür haben wir längst. Wir müssen sie nur nutzen. Man stelle sich vor, wir könnten damit Milliarden Menschen in die Lage versetzen, beim Einkaufen oder im gesamten Alltag bessere Entscheidungen zu treffen …
Aber die Verantwortung sollte ja nicht allein bei den Konsumentinnen und Konsumenten liegen. Ende 2022 hat die Europäische Union deshalb die CSR-Richtlinie verabschiedet, die in den kommenden Jahren rund 50.000 Unternehmen dazu verpflichtet, ihre Nachhaltigkeitsbemühungen offenzulegen. Der Schutz und die Auswirkungen auf die Biodiversität spielen dabei ebenfalls eine Rolle. Was halten Sie von dieser Vorgabe?
Im Prinzip halte ich das für eine wirklich gute Entwicklung. Aber wenn Organisationen Anreize bekommen, nur bestimmte Aspekte der Natur zu fördern, sei es die Kohlenstoffbindung in Fichten oder die erfolgreiche Ansiedlung von Schmetterlingen auf Feldern, wird das nicht reichen. Ich möchte deshalb die Entwicklung eines Rahmens fördern, der die gesamte Komplexität der Natur fördert, nicht nur einzelne Teile. Das wäre dann wirklich von großem Nutzen.
Wie schätzen Sie denn die Lage in der Schweiz ein?
Die Schweiz verfügt über eine große Bandbreite an Ökosystemtypen. Das Land ist weltweit führend bei deren Management oder in Sachen Forstwirtschaft und hat das Potenzial für eine starke Biodiversität. Und die Wertschätzung der Schweizerinnen und Schweizer für die biologische Vielfalt in Wäldern und alpinen Landschaften ist groß. Das finde ich toll. Aber auch hier ist die Natur extrem bedroht durch Klimaveränderungen, Waldbrände, Schädlingsbefall und Landnutzung. 2023 hat das Umweltministerium einen Bericht veröffentlicht, demzufolge die Hälfte der Lebensräume und ein Drittel der Arten bedroht sind. Ein ziemlich unbefriedigender Zustand – wie in den meisten europäischen Ländern.
Vor wenigen Wochen hat die EU immerhin ein lange und hart umkämpftes Renaturierungsgesetz beschlossen.
Ein gewaltiger Schritt nach vorn. Und viele Menschen sind sich gar nicht im Klaren darüber, was das für unsere Wirtschaft bedeutet. Denn auch für die landwirtschaftliche Produktivität in Europa ist die Artenvielfalt sehr wichtig. Unser Institut wird noch in diesem Jahr eine Studie veröffentlichen. In dieser konnten wir nachweisen, dass in allen europäischen Ländern, in denen sich die Natur in den vergangenen 30 Jahren etwas erholen konnte, die landwirtschaftlichen Erträge deutlich gestiegen sind. Der Reichtum in der Natur steht also in direktem Zusammenhang mit finanziellen Erträgen. Wenn die Natur floriert, floriert auch die Wirtschaft.
Die zahllosen Arten und Lebensräume, die wir bereits verloren haben, bringt das aber nicht zurück.
Leider nein. Die Natur lässt sich nicht einfach so reparieren wie ein kaputtes Auto. Aber nur, weil wir schon so viel kaputt gegangen sind, heißt das nicht, dass wir jetzt einfach aufhören können, uns für einen besseren Planeten einzusetzen. Das Leben auf diesem Planeten war noch nie einfach. Im Laufe der Evolution sind immer wieder Arten ausgestorben und neue entstanden. Wenn wir jetzt das Ruder herumreißen, können wir verhindern, dass die Dinge noch schlimmer werden. Ich bin da sehr optimistisch. Selbst wenn der Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt nicht stattfinden würden, wäre ich genauso motiviert.
Thomas Crowther, 38
ist Professor für Ökologie an der ETH Zürich und Co-Vorsitzender des Beirats für die Dekade der Vereinten Nationen zur Wiederherstellung von Ökosystemen.
Dieses Interview ist ein Produkt der CP-Redaktion der brand eins Medien AG, Hamburg, im Auftrag des Migros Pionierfonds.
Konzept, Redaktion und verantwortlich für den Inhalt: Margitta Schulze Lohoff
Text: Laslo Seyda (fr)
Gestaltung: Deborah Tyllack
www.brandeins.de