Lasst die Rohstoffe wachsen


Um unsere Umwelt zu schützen, stellen wir nur noch Produkte aus natürlichen, erneuerbaren Ressourcen her – eine schöne Idee namens Bioökonomie. Doch in der Realität ist das gar nicht so einfach, erklärt Franziska Schünemann, Professorin für dieses Fachgebiet.

 

Frau Schünemann, ganz konkret: Wo spielt die Bioökonomie in Ihrem Privatleben eine Rolle?
Ich bin beruflich und privat viel unterwegs. Wenn ich längere Zeit nicht zu Hause bin, landen die Schalen von Obst und Gemüse auch mal im Restmüll und nicht im Biomüll. Der würde sonst oft tagelang stehen bleiben und vor sich hin stinken, das mag ja niemand wirklich gern. In vielen Städten und Gemeinden gibt es noch nicht einmal eine ordentliche Biotonne. Dabei ließe sich diese ganze Biomasse, wenn sie denn richtig entsorgt würde, super weiterverwenden als Dünger in der Landwirtschaft, als Substrat für eine Biogasanlage oder am besten für eine höherwertige stoffliche Nutzung. Die Potenziale nutzen wir Menschen viel zu selten aus.

Warum ist dieses Thema so wichtig?
Wir wissen, dass fossile Rohstoffe und mineralische Ressourcen nur begrenzt verfügbar sind. Ihre Gewinnung ist energieaufwendig und bedroht die Artenvielfalt, ihre Verbrennung befeuert den Klimawandel. Die Wirtschaft der Zukunft braucht natürliche, nachwachsende Rohstoffe in Form von Biomasse. Jedoch benötigt auch der Anbau von Biomasse begrenzte Ressourcen, insbesondere Landflächen. Die Äcker, Wälder und Meere, aus denen diese Rohstoffe kommen, sind schon heute zum Teil übernutzt. Zudem brauchen wir die Biomasse zuallererst für unsere Nahrungsmittelproduktion und zum Erhalt unserer Artenvielfalt und können diese begrenzte Ressource daher nicht einfach zum Ersatz von fossilen Rohstoffen in der Industrie einsetzen. Die Herausforderung besteht darin, die vorhandene Biomasse und Landfläche nachhaltig in der Bioökonomie zu nutzen, um Nahrungsmittelsicherheit und Artenvielfalt nicht zu gefährden und gleichzeitig das Klima zu schützen. 

Das scheint ein Problem zu sein, das sich nur schwer lösen lässt.
Ja, und das erfordert die Bereitschaft zum interdisziplinären Arbeiten, gerade als Bioökonomin. Auch wenn man kein Ingenieurs- oder Chemiestudium hinter sich hat, muss man sich beispielsweise mit den Produktionsprozessen von Biokraftstoffen auseinandersetzen wollen. Man braucht ein ernsthaftes Interesse daran, sich mit unterschiedlichen Themen zu beschäftigen und den Willen, sie wirklich zu durchdringen.

Die angesprochenen Biokraftstoffe stehen schon lange in der Kritik. In den USA werden noch heute flächendeckend Mais-Monokulturen für die Herstellung von Treibstoffen angebaut, andernorts genveränderte Baumsorten, die schnell wachsen. Ist das noch im Sinne der Umwelt?
In der Tat steckt die Bioökonomie voller Zielkonflikte. Der Boom der Biokraftstoffe Anfang des Jahrtausends wird oft für die Nahrungsmittelpreiskrise in den Jahren 2007 und 2008 verantwortlich gemacht, auch wenn wir heute wissen, dass hier viele Ursachen zusammenkamen und die Biokraftstoffe nur eine davon waren. Grundsätzlich führt eine gesteigerte Nachfrage nach Biomasse immer zu Preissteigerungen auf den Weltmärkten, ob für eine industrielle Nutzung oder für Futtermittel wie etwa Soja oder auch zur Befriedigung des immer noch stark wachsenden Bedarfs nach tierischen Nahrungsmitteln, vor allem in den Schwellenländern. Hohe Preise liefern dann einen Anreiz für direkte Landnutzungsänderungen, beispielsweise durch Abholzung. Eine Bioökonomie, die für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt verträglich ist, ist also wirklich kompliziert.

Was kann man tun?
Ich arbeite zum Beispiel mit globalen Handelsmodellen, mit denen wir die vielen Verflechtungen zwischen den einzelnen Branchen gut darstellen, Veränderungen simulieren und Markteffekte isolieren können. Wir gucken uns damit etwa an, wo durch die Bioökonomie Flächenkonkurrenzen entstehen. Was wären Auswirkungen, wenn man innovative bio-basierte Produkte im großen Maßstab denkt? Wie verändert sich die Landnutzung? Wie entwickeln sich die Preise? Mit unseren Modellen können wir diese Fragen ziemlich gut beantworten.

Und welche Lösungen haben Sie gefunden?
Zuallererst müssen wir dringend die Produktivität der Landwirtschaft im globalen Süden steigern. Und da ist tatsächlich mehr möglich, als man vermuten mag. In einer gemeinsamen Studie mit Forschenden aus München und Basel haben wir nämlich herausgefunden, dass sich rund die Hälfte der weltweiten Agrarflächen einsparen ließen – bei gleichbleibender Produktion. Man müsste allerdings die Anbaumethoden wesentlich effizienter gestalten, vor allem in Subsahara-Afrika, Indien und in Teilen Lateinamerikas. Für den Erhalt der Biodiversität wäre das ein gewaltiger Gewinn.

Sie sagen also, es bleibt alles beim Alten in Sachen Ernährung? 
Nein, wir müssen uns schon anders ernähren, weniger essen – vor allem beim Thema Fleisch. 
Fleisch ist einfach ein wahnsinnig ineffizientes Produkt. Würde man die rund 160 Millionen Tonnen Sojabohnen, die jedes Jahr in Brasilien geerntet werden, nicht als Futter für unsere Rinder und Schweine in China und Europa nutzen, sondern als pflanzliche Lebensmittel für den Menschen, würde man viele Menschen satt bekommen. Und warum bauen wir nicht wieder ältere Arten an, die hierzulande gut wachsen, Alblinsen oder Kichererbsen zum Beispiel? Mir geht es nicht darum, alle zum Veganismus zu bekehren. Aber die mehr als 43 Millionen Hektar Regenwald, die für die Soja-Anbauflächen gerodet wurden, fehlen uns jetzt als CO2-Senke.

Bäume zu fällen, die ja eigentlich auch zu den natürlichen und nachwachsenden Rohstoffen zählen, wäre danach eigentlich ein Unding.
Jein. Bei unberührten Regenwäldern oder anderen intakten Waldökosystemen ist die Sache klar. Sie müssen erhalten bleiben. Es gibt aber natürlich auch Wirtschaftswälder. Wenn diese nachhaltig bewirtschaftet werden – und das ist ja auch im Sinne der Eigentümer – und wir das Holz, das wir aus ihnen entnehmen, und die Produkte, die wir aus dem Holz herstellen, so lange, so häufig und so effizient wie möglich stofflich nutzen, dann ist die CO2-Bilanz dieser Wirtschaftswälder weitgehend neutral. Kaskadennutzung nennt man das im Forschungsjargon.

Das entspricht den Prinzipien der Kreislaufwirtschaft.
Ja. Und ganz einfach gesagt: Aus dem Holz der Bäume sollte man keine Wegwerfprodukte machen, sondern etwa möglichst langlebige Produkte, Stühle, Schränke oder Tische. Irgendwann müssen sie natürlich so gut wie möglich recycelt werden und sollten erst am Ende ihrer Lebenszeit verbrannt werden. Und Kartonverpackungen zum Beispiel, die ja relativ schnell wieder entsorgt werden, kann man auch aus den Fasern der Pflanze Silphie herstellen. So könnte man den Holzverbrauch deutlich reduzieren.

Welche Ansätze gibt es darüber hinaus?
Die Nutzung der Nebenprodukte. Bei der Ernte von Gemüse und Feldfrüchten fallen ja zahlreiche Überbleibsel wie Blätter, Stiele, Stängel, Wurzeln an, die man zum Beispiel stofflich oder energetisch nutzen könnte. Wenn wir die Nebenprodukte vom Feld holen, müssen wir aber auch sicherstellen, dass wir am Ende einer Nutzungskaskade die fehlenden Nährstoffe wieder aufs Feld zurückführen, um die Humusbilanz im Boden auszugleichen. Im besten Fall könnte man dann sogar weniger anorganischen Dünger einsetzen.

Das mit dem Dünger ist ja aber keine Neuheit …
… aber trotzdem wichtig. Im Idealfall zieht man vorher auch noch die reichen chemischen Grundstoffe aus den Nebenprodukten. Aus Zuckerrübenblättern oder Gemüseblättern kann man zum Beispiel wertvolle Proteine gewinnen und sie wieder in Nahrungsmitteln für den Menschen verwenden. Dann müssten wir auch weniger Wälder für immer neue Agrarflächen abholzen. Es gibt auch Start-ups, die Kosmetiköle oder -cremes aus Mandarinenschalen und Fruchtkernen gewinnen und mithilfe von Pilzenzymen Fleischalternativen heranzüchten. An Anwendungsbereichen mangelt es also nicht.

Aber das klingt ziemlich positiv.
Das Problem ist, dass die Gesetzeslage in Europa oft nicht ganz einfach ist. Die Frage, was Abfall ist und was später für die menschliche Ernährung genutzt werden kann, ist sehr umstritten. Und leider dauern Gesetzesänderungen in diese Richtung sehr lange. Außerdem würde die Bergung für die Landwirte, bei denen die Nebenprodukte ja anfallen, oft einen zusätzlichen Aufwand bedeuten, der irgendwie ausgeglichen werden muss. Sie haben schon jetzt mit vielen Auflagen zu kämpfen. Wenn sie dann auch noch ihre Reststoffe vom Feld herunterkarren und irgendwo hinfahren müssen, wäre das mit noch mehr Kosten, Zeit und Stress verbunden.

Eine Chance wäre es aber?
Ja! Gemüseblätter enthalten zum Beispiel extrem viel Wasser, sie müssen entweder getrocknet oder sofort weiterverarbeitet werden, weil sie sonst vor sich hin faulen. Und dann müssen wir noch sinnvolle Standorte für Bioraffinerien finden. Denn solche Reststoffe brauchen oft viel Transportfläche und sind schwer, ihre Energiedichte ist aber relativ gering. Es ist also oft nicht profitabel, die Reststoffe über weite Strecken zu transportieren. Für mich ist aber klar, dass eine funktionierende Bioökonomie am Ende sogar die Kosten senkt, vor allem auf lokaler Ebene. Und wenn wir so die ländliche Entwicklung fördern, profitiert am Ende die gesamte Gesellschaft davon.

Was braucht es denn noch, um die Transformation hin zu einer Bioökonomie zu beschleunigen?
Ohne politischen Willen und die nötige Förderung geht nichts. Viele biobasierte Technologien stecken noch in der Entwicklung oder haben noch keine Marktreife. Da muss kräftig investiert werden – sowohl von öffentlicher als auch privater Hand. Am Ende geht es nämlich auch immer um die Frage, wie lange ein Start-up mit einer innovativen Lösung überleben kann. Und vonseiten der Wissenschaft braucht es eine größere Bereitschaft, Lösungsansätze und neue Konzepte besser und großflächiger zu kommunizieren. Dann steigt die Nachfrage, dann wird noch mehr geforscht und dann steigen auch die Erfolgschancen für biobasierte Alternativen.

Was tragen Sie und Ihre Kollegen an der Uni Hohenheim dazu bei?
Wir beteiligen uns aktiv an solchen Innovationsprojekten von der ökonomischen Seite aus. Mit Kolleginnen und Kollegen des Exzellenzclusters IntCDC untersuchen wir zum Beispiel das ökonomische und ökologische Potenzial eines Pavillons, der Ende April auf der Landesgartenschau in Wangen im Allgäu eingeweiht wurde. Das Abgefahrene dabei: Das wellenförmige Holzdach, das eine Fläche von 380 Quadratmetern überspannt, wird – abgesehen von den Sperrholzsäulen in der Glasfassade – fast komplett von einer ausgeklügelten Konstruktion aus Naturfasern getragen, ganz ohne energiefressenden Stahl und Beton. Flachs ist eine uralte Pflanze aus der Region, wurde früher zur Herstellung von Textilien verwendet – und dann völlig vergessen. Die Stuttgarter Kolleginnen und Kollegen haben ihre Verwendung neu gedacht. Die Leichtbauweise wurde vom Computer berechnet, die Faserkörper wurden robotisch gewickelt, die Schneelast beträgt 360 Kilogramm pro Quadratmeter – das ist sehr viel. Und vor allem lässt sich das Gebäude vollständig zurückbauen und die Materialien wiederverwenden.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Sehen Sie uns alle in so einem Haus sitzen?
Das sieht schon alles sehr science-fiction-mäßig aus mit dieser wellenförmigen Konstruktion und diesem Tragwerk aus Fasern, aber es funktioniert. Also: Warum nicht? Was es dann aber auf jeden Fall braucht, ist ein Schacht in jedem Haus, der unseren Biomüll schluckt und daraus Materialien oder Energie produziert.

Franziska Schünemann, 35

leitet seit 2020 das Fachgebiet Bioökonomie am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Hohenheim in Stuttgart.

Podcast

Bioökonomie ganz praktisch

In unserem Podcast 100 Minuten findet brandeins-Podcaster Frank Dahlmann auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Wirtschaft Unternehmen in der Schweiz. In dieser Folge: Leo Caprez von Brainforest. Er entwickelt für Schweizer Firmen nachhaltige Geschäftsmodelle, um mit ihnen gemeinsam zu verhindern, dass Wälder abgeholzt werden. 

Dieses Interview ist ein Produkt der CP-Redaktion der brand eins Medien AG, Hamburg, im Auftrag des Migros Pionierfonds. 
Konzept, Redaktion und verantwortlich für den Inhalt: Margitta Schulze Lohoff
Text: Laslo Seyda (fr)
Gestaltung: Deborah Tyllack
www.brandeins.de