Das Innere nach außen kehren
Mehr Nachhaltigkeit braucht nicht nur die Umwelt, sondern auch unser Innenleben, findet Sarah Emond. Ansonsten, so sagt die schwedische Expertin für Inner Development Goals, übernehmen wir uns mit den Herausforderungen der Klimakrise.
Frau Emond, ganz konkret: Wo haben die Inner Development Goals, kurz IDGs, in Ihrem Privatleben zuletzt eine Rolle gespielt?
Tatsächlich fast jeden Tag. Ich sehe darin einfach ein glaubwürdiges Kommunikationsinstrument, wenn ich mit Freundinnen und Geschäftspartnerinnen über Nachhaltigkeit und das Leben im Allgemeinen spreche. Die IDGs helfen dabei, Dinge, mit denen andere – noch – nichts anfangen können, konkreter und relevanter zu machen.
Erklären Sie das Konzept doch bitte einmal kurz.
Ausgangspunkt für die Inner Development Goals sind die 17 Nachhaltigkeitsziele oder Sustainable Development Goals, zu denen sich die Vereinten Nationen im Jahr 2015 bekannt haben. Bei dieser Art Fahrplan bis zum Jahr 2030 geht es unter anderem um die Bekämpfung des Welthungers, den Aufbau internationaler Partnerschaften, die Sicherung guter Bildung, Maßnahmen gegen den Klimawandel und den Schutz von Lebensformen an Land und unter Wasser. Leider ist die Verwirklichung dieser Vision ziemlich ins Stocken geraten. Bei der Halbzeitbilanz im Jahr 2023 waren nur 15 Prozent der Ziele weltweit auf dem richtigen Weg. Deshalb wurden die IDGs entwickelt. Mehr als 4000 Expertinnen und Praktiker waren daran beteiligt. Das Ziel: Fähigkeiten und Werkzeuge bereitzustellen, mit denen Einzelpersonen, Organisationen oder Unternehmen die nötigen emotionalen und kognitiven Kompetenzen entwickeln können, um die Pläne für eine nachhaltige Welt auch wirklich umzusetzen.
Ohne inneren Wandel also kein Erfolg im Kampf um das Klima? Das klingt sehr nach Coaching und weniger nach konkreten und handfesten Lösungen.
Die Inner Development Goals sind in der Tat keine Raketentechnik, das sollten sie aber auch nie sein. Wir erkennen mehr und mehr, dass auch menschliche Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Weltanschauungen ein Schlüssel zur Lösung unserer Nachhaltigkeitsprobleme sind. Wir sind als Individuen nämlich viel zu stark entkoppelt von unserem Inneren und unserer Umwelt. Viele interessieren sich nur noch wenig für das Schicksal anderer Menschen und der Natur. Das muss sich dringend ändern! Der Weltklimarat IPCC hat das bereits erkannt, er hat die Bedeutung der inneren Dimension der Nachhaltigkeit in seinen Berichten explizit erwähnt. Je intensiver wir an unserer inneren Entwicklung arbeiten, desto nachhaltiger wird unsere Arbeit werden. Das Ego wird zum Öko. Die Systeme, Prozesse und Produkte, die wir schaffen, und die Entscheidungen, die wir treffen, werden auf unserer veränderten Weltsicht beruhen. Seit drei Jahren ist das IDG-Framework jetzt verfügbar, wird von vielen Organisationen genutzt und auch Konzerne wie Google, Ikea, die Reederei Stena oder das Kommunikationsunternehmen Ericsson arbeiten nach diesen Methoden.
Wie erklären Sie sich dieses Interesse?
Vielleicht sind die IDGs genau das, was es jetzt braucht. Lange hat die Menschheit versucht, den Klimawandel allein mit findigen technologischen Lösungen und mit politischer Regulatorik zu lösen. Wenn man aber mit Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik spricht, stellt sich heraus, dass oft der Mut und die Motivationen fehlen, um wirklich entschlossen zu handeln. Das Klima unterliegt zwar physikalischen Gesetzmäßigkeiten, viele Fragen im Umgang damit berühren aber den innersten menschlichen Kern: Es hat sehr viel mit unseren Gewohnheiten und Gefühlen zu tun, mit unseren Werten und unserer Identität – und mit unserer Unfähigkeit, eine langfristige Perspektive einzunehmen.
Wie meinen Sie das?
Vergleichen wir es doch einmal mit der Coronapandemie. Das war eine unmittelbare Bedrohung, die uns unangenehm nahe kam und alle Lebensbereiche betraf, unsere Familien, unsere Arbeit, einfach alles. Es ließ sich nicht verleugnen. Und deswegen war die Menschheit auch in der Lage, in relativ kurzer Zeit viele kluge Lösungen zu finden – und das sogar auf globaler Ebene. Wir haben unseren Alltag und unseren gesellschaftlichen Umgang so umgestaltet, dass das Leben trotzdem irgendwie weitergehen konnte. Die Klimakrise ist aber in der Regel nicht sofort zu spüren. Auf Klimaängste und Klimaauswirkungen springt unser Gehirn einfach nicht an. Es scheint nur auf Schutzmechanismen für kurzfristige und handfeste Bedrohungen programmiert zu sein.
Aber die Folgen des Klimawandels sind offensichtlich. Wir sehen es ständig in den Nachrichten.
Es gibt eine Kluft zwischen Wissen und Handeln, die wir überbrücken müssen, um einmal den deutschen Ökonom Otto Scharmer zu zitieren. Wir Menschen sind nämlich große Künstler im kognitiven Verzerren. Wir nehmen eingeschränkt oder falsch wahr, verdrängen Erinnerungen und bewerten Geschehnisse gern so, wie sie uns am besten passen. Wir sind überfordert mit all den Krisen, Kriegen und Katastrophen in der Welt. Durch die Ausbreitung des Internets und mobiler Endgeräte werden wir ja regelrecht mit Informationen überflutet. Alles passiert so schnell, jede Sekunde gibt es neue Entwicklungen und oft hängt vieles miteinander zusammen. Es ist wahnsinnig komplex! Viele Apps und Netzwerke befeuern das zusätzlich, indem sie bevorzugt dramatische und aufmerksamkeitsstarke Inhalte ausspielen, die Reaktionen bei den Userinnen und Usern auslösen. Unser Gehirn ist schlichtweg nicht darauf ausgelegt, dieses exponentielle Wachstum an Informationen und Emotionen zu verarbeiten. Viele Menschen machen da regelrecht dicht.
Haben Sie selber schon einmal so eine Überforderung erlebt?
Ich erinnere mich noch gut an den Tsunami, der Weihnachten 2004 auf die Küstengebiete in Südostasien traf. Ich saß damals in meinem Studentenwohnheim, hörte und las all diese tragischen Geschichten, habe all diese Informationen und Gefühle in mich aufgesaugt. Das hat meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen und mich viel Zeit und Energie gekostet. Aber bei der Aufarbeitung der eigentlichen Katastrophe hat es nicht geholfen. Dabei hätte ich mich, anstatt vor dem Fernseher zu sitzen und nichts zu tun, ehrenamtlich engagieren können, indem ich Sach- oder Geldspenden organisiere oder so etwas. Das hätte wirklich etwas bewegt.
Welche Lösungsansätze bieten die Inner Development Goals?
Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort. Gefühle sind individuell, die Kulturen und Gepflogenheiten in Organisationen auch, also ist auch die jeweilige Herangehensweise individuell. Und solche Prozesse kann man nicht einfach so implementieren oder anderen aufzwingen. Man kann nur sichere Räume schaffen, in denen die Menschen sich eingeladen fühlen, ihre Beziehung zu sich selbst und anderen zu erforschen oder ihre kognitiven und sozialen Fähigkeiten zu erweitern. Das Ziel aber ist klar: Wir brauchen eine Art neutrale Empathie, die uns nicht komplett auffrisst, die gesund ist und uns nicht daran hindert, klare und gut durchdachte Lösungen zu entwickeln.
Ist das nicht etwas utopisch?
Überhaupt nicht. Es gibt indigene Völker, die ihre Entscheidungen noch immer im Hinblick auf die Folgen treffen, die sie in sieben Generationen haben werden. Das sogenannte Seventh Generation Principle haben wir für den Werkzeugkasten der Inner Development Goals abgewandelt. In einem Rollenspiel tun wir so, als würden wir die eigenen Ur-Ur-Enkel treffen. Dann setzen wir uns mit ihm oder ihr zusammen und fangen an zu reden. Darüber, was gerade in der Welt passiert, wie sich das für uns anfühlt und was wir selbst dagegen unternehmen oder unternehmen könnten. Wir konfrontieren uns also direkt mit unserer Verantwortung und mit der Meinung unserer Nachkommen über uns. Auf einmal ist der Klimaschutz keine weit entfernte Theorie mehr, sondern hat ganz direkt mit uns selbst zu tun. Auf einmal fängt man an zu fühlen. Und dann ändert sich auch das Denken und Handeln.
Welche Methoden wenden Sie noch an?
Ein weiteres Beispiel ist das sogenannte Bubble Hopping, das auch an der Stockholm School of Economics zur Anwendung kommt. Im Grunde geht es darum, sich ganz bewusst in eine andere gesellschaftliche Blase zu begeben. Meistens umgeben wir uns ja gerne mit Menschen, die uns sehr ähnlich sind, die aus derselben Schicht kommen wie wir, die gleiche Ausbildung durchlaufen haben wie wir, die unsere Werte teilen. Das hindert einen eher dabei, andere Perspektiven und Entscheidungen nachzuvollziehen.
In der Tat! Wie funktioniert Bubble Hopping?
Beim Bubble Hopping setzen wir uns bewusst für mehrere Stunden oder Tage den Perspektiven einer Gruppe des anderen politischen Spektrums aus. Man darf Fragen stellen und zuhören, selbst zu sprechen ist aber verboten. Bestimmt gefällt einem vieles nicht von dem, was die anderen sagen. Vielleicht findet man sich aber in manchen Punkten auch selbst wieder. Es geht darum zu lernen, dass es sich bei Andersdenkenden immer noch um Menschen handelt. Es gibt Gründe, warum sie so denken und handeln, wie sie es tun. Und wenn man sie erklären lässt, kann man vielleicht Verbindung zu ihnen aufbauen. Das ist die Grundvoraussetzung, um wieder mehr in den Dialog miteinander zu kommen, gegenseitiges Verständnis zu fördern, Einigkeit zu erzeugen und so große gesellschaftliche Veränderungen anzuschieben.
Lässt sich der Erfolg der IDGs auch wissenschaftlich belegen?
Meine Kollegin Christine Wamsler, die als Professorin an der Universität Lund zum Thema Nachhaltigkeitsforschung lehrt, konnte im Rahmen ihrer Forschung nachweisen, dass Schulungen in Achtsamkeit und Mitgefühl tatsächlich einen positiven Einfluss auf transformative Qualitäten und Fähigkeiten haben können. Christine kann auch belegen, dass es eine Verbindung zwischen der individuellen, der kollektiven und der Systemebene gibt und betont immer wieder, dass wir an allen Ebenen arbeiten müssen. Wenn wir es also schaffen, neben Einzelpersonen auch größere Gruppen zu aktivieren, dann potenziert sich der Einflussbereich.
Wie verhindert man, dass die kollektive Entwicklung nicht dauerhaft der individuellen Entwicklung untergeordnet wird? Nicht wenige Achtsamkeits-Anhänger pflegen das gesunde Kochen, regelmäßige Meditationszeiten und positives Denken, sind vor lauter Selfcare aber mehr bei sich als bei der Außenwelt.
Wie gesagt: Die innere Entwicklung spielt eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele. Wenn wir dabei aber die externen Hebel völlig außer Acht lassen, ist das wenig hilfreich. Es geht um die richtige Kombination und Integration beider Ansätze. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir uns über das, was um uns herum geschieht, auf dem Laufenden halten und weiterbilden. Und wir müssen das Prinzip der aktiven Hoffnung lernen. Ich beziehe mich da gerne auf die Ökophilosophin Joanna Macy, die sich viel mit dem Buddhismus und dem Thema Systemwissenschaften beschäftigt hat. In einem ihrer Bücher beschreibt sie das Prinzip der aktiven Hoffnung: Klar, man kann und darf immer dafür beten, dass sich die Dinge irgendwie zum Besseren wenden. Man sollte sich dabei aber auch immer fragen: Welchen Beitrag kann ich leisten? Wie kann ich helfen, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen? Wer nämlich immer nur darauf wartet, dass andere die ganze Arbeit machen, wird nur enttäuscht. Aber mit einem Ansatz, der sowohl die inneren als auch die äußeren Dimensionen integriert, können wir gemeinsam eine nachhaltige Welt schaffen!
Sarah Emond, 43
ist studierte Ingenieurin und als Rednerin und Unternehmensberaterin tätig. 2022 wurde sie zur Direktorin des neuen Science Centers in Lund ernannt, das 2027 eröffnen soll.
Dieses Interview ist ein Produkt der CP-Redaktion der brand eins Medien AG, Hamburg, im Auftrag des Migros Pionierfonds.
Konzept, Redaktion und verantwortlich für den Inhalt: Margitta Schulze Lohoff
Text: Laslo Seyda (fr)
Gestaltung: Deborah Tyllack
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