Gesucht: eine neue Definition für Wohlstand

Was ist eigentlich Wohlstand? Wie messen wir ihn, heute und in Zukunft und wie stellen wir uns grundsätzlich in Wirtschaftsfragen zukunftsfähig auf? Diesen Fragen möchten wir uns in diesem und den folgenden Artikeln widmen. 
 

Fangen wir mit der wichtigsten Frage an: Was ist Wohlstand? Für jeden etwas anderes, würden die meisten Menschen antworten. Befragten wir hundert Menschen auf der ganzen Welt, bekämen wir hundert verschiedene Antworten, die von einer warmen Mahlzeit über ein eigenes Zimmer bis zu einer Villa am Meer rangieren. Für andere ist Wohlstand nichts Materielles, sondern zum Beispiel der Luxus, frei über die eigene Zeit verfügen zu können. Für viele sind wir eine verwöhnte Wohlstandsgesellschaft, die auf nichts verzichten will. Andere sehen in unserer sich rasant ändernden Welt nur noch den Verzicht und haben Angst, ihren persönlichen Wohlstand zu verlieren. 

Wohlstand ist also eigentlich etwas sehr Subjektives, doch damit können weder Wirtschaft noch Politik arbeiten. Und darum lautet für westliche Industrienationen seit den 1940er-Jahren die einfache Formel: Unser Wohlstand, das ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es beziffert den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einem Land erwirtschaftet werden, bildet also die gesamte Wirtschaftskraft eines Landes in einer einzigen Zahl ab. Die Logik, die Ökonom*innen und Politiker*innen seit Jahrzehnten daraus ableiten: Wenn es unserer Wirtschaft gut geht, geht es auch den Bürger*innen gut. 
Ist doch klar. 

Oder?

Natürlich ist es nicht so einfach. Und gedacht war es so auch nie. Denn Wohlstand, das ist eben nicht nur eine Zahl. Das sehen nicht nur wir heute so – die Kritik am BIP ist fast so alt wie das BIP selbst. Schon Robert F. Kennedy sagte 1968 in einer Rede: «Es misst alles, ausser dem, was das Leben lebenswert macht.»

Denn das BIP hat seine Schwächen: Geschieht eine Naturkatastrophe, werden die Aufbauarbeiten als Zuwachs und damit als Wohlstandsgewinn verbucht. Der Verlust der Infrastruktur, die Traumata der betroffenen Menschen? Werden im BIP nicht mitgerechnet. 

Care-Arbeit? Kommt nicht vor. Work-Life-Balance? Fehlanzeige. Ökologische Probleme wie Klimawandel, Artensterben und Verschmutzung wachsen mit dem BIP, werden aber nicht darin eingepreist. 

Und so gibt es nicht erst seit der Klimakrise Initiativen und Indizes, die den Wohlstand mit anderen Faktoren bemessen und zum Beispiel Gesundheit, Wohlbefinden, Bildung und Lebenszufriedenheit mit einbeziehen. Die wichtigsten sind:
 

  • Der Human Development Index (HDI) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen trifft Aussagen darüber, wie die menschliche Entwicklung in einem Land ist. Die Indikatoren dafür sind Gesundheit, Bildung und Lebensstandard.

 

 

  • Der Better Life Index (BLI), der seit 2011 von der OECD erstellt wird, wird nach elf Indikatoren gewichtet: Arbeit, Bildung, Einkommen, Gesundheit, Lebenszufriedenheit, Mitwirkung an demokratischen Prozessen, Sicherheit, sozialer Zusammenhalt, Umwelt, Wohnen und Work-Life-Balance. 

 

  • Der Happy Planet Index (HPI) misst, wie glücklich und nachhaltig Bewohner*innen eines Landes leben, und betrachtet drei Faktoren: das subjektive Wohlergehen, die durchschnittliche Lebenserwartung und die Nachhaltigkeit, gemessen anhand des ökologischen Fussabdrucks. 
     

Es gibt sie also schon, die Alternativen. Und sie finden ihre Anwendung: Die Ranglisten der glücklichsten Länder werden regelmässig publiziert, und Forschende werden immer besser darin, die Bedürfnisse der Menschen weltweit zu identifizieren. Doch noch fliessen die Ergebnisse nicht in konkrete politische Entscheidungen ein – und das wäre das Ziel. 
Was gar nicht bedeutet, dass das BIP komplett abgeschafft werden muss, sagt selbst UN-Generalsekretär António Guterres. Aber es sollte nicht mehr der einzige Massstab sein, wenn es um die Frage geht: Was ist ein gutes Leben – für alle?

 

Mehr zu diesem Thema:

«Wir brauchen einen holistischen Blick auf den Begriff Wohlstand.»

Die Ökonomin Dr. Katharina Lima de Miranda forscht am Kiel Institut für Weltwirtschaft und hat eine Messmethode für Wohlstand entwickelt: das Recoupling Dashboard. 
Wir haben sie gefragt, warum wir überhaupt Wohlstand neu messen müssen, was das Gefühl der Selbstbefähigung damit zu tun hat und warum junge Unternehmer*innen ihr Hoffnung machen.

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