“Wir brauchen einen holistischen Blick auf den Begriff Wohlstand.”

  - Dr. Katharina Lima de Miranda, Ökonomin
 

Wohlstand – das hiess für die meisten von uns lange: materieller Wohlstand. Doch (spätestens) mit Corona und der Klimakrise hat ein tiefgreifender Wandel eingesetzt. Nicht nur die Gesellschaft, auch Wissenschaftler*innen stellen sich vermehrt die Frage: Ist unsere Definition von Wohlstand noch zeitgemäss?

Denn in vielen Ländern der Welt sind wirtschaftlicher und sozialer Wohlstand voneinander entkoppelt. Die Folgen: Ein wachsendes Gefühl der Entmachtung und sozialer Entfremdung in der Gesellschaft. Es gilt also, neue Definitionen von Wohlstand zu etablieren, die soziale Indikatoren ebenso erfassen wie ökonomische, und daraus Rückschlüsse auf die Lebensqualität und die Empfindungen der Menschen im Land zulassen. 

Die Ökonomin Dr. Katharina Lima de Miranda forscht am Institut für Weltwirtschaft in Kiel und hat gemeinsam mit Dennis Snower, Professor an der Hertie School of Governance in Berlin und Präsident der Global Solutions Initiative, eine solche Messmethode entwickelt: das Recoupling Dashboard. Im Interview haben wir mit ihr darüber gesprochen, was das Gefühl der Selbstbefähigung mit Wohlstand zu tun hat und warum junge Unternehmer*innen ihr Hoffnung machen. 

 

Frau Dr. Lima de Miranda, wie definieren wir bislang Wohlstand und warum ist das nicht mehr zeitgemäss?

Katharina Lima de Miranda: Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Wohlstand materiell definiert. Besitz spielt eine grosse Rolle. Doch wir merken eben immer mehr, dass uns das nicht glücklich macht. Was wir meiner Meinung nach brauchen, ist ein holistischer Blick auf den Wohlstand. Es gibt eine Diskrepanz zwischen materiellem und sozialem Wohlergehen und das wollten wir beleuchten. Aus diesem Gedanken ist das Recoupling Dashboard entstanden.
 

Wo setzt das Recoupling Dashboard an?

Katharina Lima de Miranda: Unser Index enthält vier Dimensionen. Erstens - materieller Wohlstand. Zweitens - das Gefühl, in die Gesellschaft eingebunden zu sein. Drittens - die Möglichkeiten, sein Leben selbst in die Hand nehmen zu können, und viertens der Zustand der Umwelt. Die soziale Komponente spielt bei uns die grösste Rolle. Wir schauen stark darauf, wie Menschen ihre soziale Situation empfinden.
 

Was bedeutet das genau und warum ist es wichtig?

Katharina Lima de Miranda: Viele Menschen empfinden zur Zeit ein starkes Ohnmachtsgefühl, gerade, was den Klimawandel angeht. Sie haben nicht das Gefühl, selbst etwas tun zu können. Doch dieses Gefühl der Selbstbefähigung ist sehr wichtig. Studien belegen, dass Menschen sich engagieren, wenn sie sich in der Lage fühlen, etwas ändern zu können, und das ist nicht nur wichtig für den Einzelnen, sondern für die ganze Gesellschaft. Das Recoupling Dashboard misst, wie die Menschen in einem Land ihre eigene Selbstbefähigung einschätzen und das sagt etwas über die Gesellschaft und die Stimmung des Landes aus.
 

Wer oder was beeinflusst dieses Gefühl der Selbstbefähigung?

Katharina Lima de Miranda: Mein Appell richtet sich hier tatsächlich stark an Unternehmer*innen - im Bereich Soziales ist bei vielen noch Luft nach oben. Unternehmen sollten sich fragen, wie ihr Handeln auf die Mitarbeiter*innen wirkt, ob diese sich befähigt fühlen, ihre Arbeit gut zu machen, ob sie das Gefühl haben, mitreden zu können, wie der soziale Zusammenhalt innerhalb der Belegschaft ist. 
Das wäre ein erster Schritt und im zweiten kann man das quantifizieren und Ziele nach aussen setzen: Wie könnte das Unternehmen dazu beitragen, dass der soziale Zusammenhalt steigt oder Menschen in die Lage versetzt werden, sich zu engagieren und inklusiv und nachhaltig zu handeln.  
 

Halten Sie es für möglich, dass Politiker*innen und Unternehmen in naher Zukunft verstärkt auf die soziale Dimension achten?

Katharina Lima de Miranda: Ich bin von Natur aus optimistisch und glaube, dass das Bewusstsein, dass sich etwas ändern muss und wir anders miteinander umgehen müssen, da ist. Es erfordert dennoch einen gewissen Mut, gerade auf politischer Ebene. Doch mir machen junge Unternehmer*innen Hoffnung, denn ich habe das Gefühl, dass die junge Generation einen anderen Fokus setzt. Der Mehrbedarf nach Teilzeit wächst, der Wunsch nach einer Work-Life-Balance, das Bewusstsein für das Klima, die Selbstverständlichkeit, mit der ökologische und soziale Faktoren einberechnet werden. Wenn es gelingt, junge Entscheider*innen zu unterstützen, dann könnte sehr schnell sehr viel passieren.
 

Was wünschen Sie sich, wie das Recoupling Dashboard politisch eingesetzt werden soll?

Katharina Lima de Miranda: Die Indizes des Dashboards sollten in tatsächliche politische Entscheidungen einfliessen, vor allem, was Planungen für die Zukunft angeht. Wenn also die Politik Massnahmen oder Gesetze plant, sollte es selbstverständlich werden, die sozialen Dimensionen und ihre Auswirkungen von Anfang an mitzudenken.

Frau Dr. Lima de Miranda, herzlichen Dank für das Gespräch! 
 

“Studien belegen, dass Menschen sich engagieren, wenn sie sich in der Lage fühlen, etwas ändern zu können, und das ist nicht nur wichtig für den Einzelnen, sondern für die ganze Gesellschaft.”

Dr. Katharina Lima de Miranda

Ökonomin (Foto: IfW)

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Die Global Solutions Initiative, die hinter dem „Recoupling Dashboard“ steht, ist Teil der unabhängigen Think20 (T20)-Engagementgruppe und setzt sich aus renommierten internationalen Think Tanks und Akademikern zusammen. Sie dient als "Ideenbank" für die G20, indem sie Think Tanks und hochrangige Experten zusammenbringt, um für die G20 relevante politische Themen zu diskutieren. Die T20-Empfehlungen werden in Form von Policy Briefs zusammengefasst und den G20-Arbeitsgruppen, Ministertreffen und Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs vorgelegt, um die G20 bei der Umsetzung konkreter politischer Maßnahmen zu unterstützen.

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